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Woran erkenne ich komplexe PTBS und wie unterscheidet sie sich von anderen Traumafolgen?

  • vor 6 Stunden
  • 7 Min. Lesezeit
Vielleicht kennen Sie das Gefühl, innerlich zerrissen zu sein. Ein Teil von Ihnen wirkt ständig angespannt und wachsam, ein anderer fühlt sich eher leer, stumpf oder wie „abgeschnitten“. Und das nicht erst seit gestern, sondern schon über viele Jahre hinweg. Möglicherweise haben Sie schon von einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) gehört und gedacht: „Irgendwie passt das teilweise zu mir – und gleichzeitig ist das, was ich erlebe, noch viel komplexer.“
Viele Menschen mit komplexer Posttraumatischer Belastungsstörung (kPTBS) haben einen langen Weg hinter sich, oft mit wiederholten oder anhaltenden traumatischen Erfahrungen, nicht selten bereits in Kindheit oder Jugend. Die Fragen, die sich dann aufdrängen, sind sehr nachvollziehbar: „Ist das noch eine ‚normale‘ PTBS oder etwas anderes? Ist das, wie ich bin, einfach schwierig – oder ist es eine verständliche Folge dessen, was ich erlebt habe?“
In diesem Artikel möchte ich Sie Schritt für Schritt mitnehmen: Was genau ist komplexe PTBS? Woran können Sie sie erkennen? Wo unterscheidet sie sich von anderen Traumafolgen? Und welche Möglichkeiten der Heilung und Selbstregulation gibt es – in einem Tempo, das zu Ihnen und Ihrem Nervensystem passt?

1.Was ist komplexe PTBS und warum fühlt sie sich so „allumfassend“ an?

Die klassische PTBS wird häufig mit einem klar umrissenen, einmaligen traumatischen Ereignis in Verbindung gebracht: einem Unfall, einer Naturkatastrophe, einer einmaligen Gewalterfahrung. Das Erleben lässt sich dann oft an einem deutlichen „Davor“ und „Danach“ festmachen. Typische Folgen sind belastende Erinnerungen oder Flashbacks, Albträume, Vermeidung bestimmter Situationen und eine anhaltende innere Alarmbereitschaft.


Bei der komplexen PTBS sieht der Hintergrund meist anders aus. Hier stehen nicht ein oder wenige isolierte Ereignisse im Vordergrund, sondern wiederholte, lang andauernde oder sehr früh beginnende traumatische Erfahrungen. Sie finden häufig in Beziehungen statt, in denen eigentlich Schutz erwartet würde: in der Familie, in engen Partnerschaften, in Institutionen, manchmal über viele Jahre hinweg. Besonders prägend ist es, wenn es damals keine echte Möglichkeit gab, sich zu schützen oder zu entkommen.


KPTBS vs. PTBS: Merkmale, Folgen und Heilungswege
KPTBS vs. PTBS: Merkmale, Folgen und Heilungswege

Die Folgen greifen dann nicht nur einzelne Erinnerungen heraus, sondern ziehen weite Kreise im inneren Erleben: Sie wirken sich auf die Art aus, wie jemand sich selbst wahrnimmt, wie Gefühle reguliert werden können, wie Vertrauen entsteht oder eben nicht entsteht.


Viele Betroffene beschreiben ein tiefes Gefühl von innerer Zersplitterung, als ob verschiedene Teile nicht wirklich zusammengehören. Dazu kommen häufig eine dauerhafte innere Anspannung, Schwierigkeiten, emotionale Wellen zu halten, und eine tiefe, manchmal schwer greifbare Scham, die sich gegen die eigene Person richtet.

Während eine „einfache“ PTBS oft wie ein Fremdkörper im Lebenslauf erlebt wird – etwas, das einmal eingeschlagen hat –, fühlen sich die Auswirkungen komplexer PTBS für viele wie ein Teil der eigenen Identität an.

Sätze wie „Ich war schon immer so“ oder „So bin ich eben“ sind dann sehr vertraut. Dabei ist dieser Zustand meist keine angeborene Eigenschaft, sondern die nachvollziehbare Spur von lang anhaltenden Belastungen und Anpassungen des Nervensystems.


2. Wie zeigt sich komplexe PTBS im Alltag?

Komplexe PTBS umfasst die klassischen PTBS-Symptome, hinzu kommen aber weitere Ebenen, die das Leben umfassend prägen. Drei Bereiche tauchen in Beschreibungen von Betroffenen besonders häufig auf: der Umgang mit Gefühlen, das Bild von sich selbst und die Gestaltung von Beziehungen.


Emotionsregulation – wenn Gefühle schwer haltbar sind

Viele Menschen mit kPTBS fühlen sich ihren Emotionen zeitweise ausgeliefert. Es kann sein, dass Gefühle scheinbar „aus dem Nichts“ mit großer Wucht auftauchen: Angst, Wut, Verzweiflung, Scham. Phasen, in denen vieles zu viel ist, wechseln sich vielleicht mit Zeiten ab, in denen man sich innerlich leer, wie taub oder weit weg von sich selbst erlebt.


Aus Sicht des Nervensystems pendelt der Körper dann oft zwischen Übererregung und Untererregung. In der Übererregung ist man innerlich angespannt, der Schlaf ist gestört, Gedanken kreisen, der Körper steht unter Strom. In der Untererregung wirkt alles wie gedämpft, als wäre ein Teil der Lebendigkeit abgeschaltet, um überhaupt weitermachen zu können. Beides sind gespeicherte Strategien, um mit Überforderung umzugehen – kluge Versuche des Nervensystems, das Überleben zu sichern.


Selbstbild – wenn innere Stimmen hart und abwertend sind

Parallel dazu leidet häufig das Selbstbild. Viele Betroffene tragen innere Sätze mit sich, die sehr hart und abwertend sind: die Vorstellung, im Kern falsch, nicht liebenswert oder schuld an dem Geschehenen zu sein. Diese tiefen und toxischen Überzeugungen wirken oft wie Tatsachen, obwohl sie in Wirklichkeit meist aus früherer Ohnmacht, Scham und Schuldgefühlen entstanden sind.

Langfristig führt das dazu, dass eigene Bedürfnisse kaum oder nur mit schlechtem Gewissen wahrgenommen werden. Wünsche nach Nähe, nach Ruhe, nach Unterstützung erscheinen dann schnell als „zu viel“ oder „unangebracht“. Heilung bedeutet hier nicht, sich „schönzureden“, was geschehen ist, sondern nach und nach zu erkennen, dass diese harten inneren Stimmen gelernte Reaktionen sind – und nicht die Wahrheit über den eigenen Wert.


Beziehungen – wenn Nähe beides ist: Sehnsucht und Bedrohung

Weil viele komplexe Traumata in Beziehungen entstanden sind, bleiben Bindung und Vertrauen besonders empfindliche Bereiche. Es kann sich einerseits eine tiefe Sehnsucht nach Nähe zeigen – danach, gesehen, gehalten und verstanden zu werden – und gleichzeitig eine große Angst davor, sich wieder so verletzlich zu machen.

Manche Menschen erleben sich daher in Beziehungen sehr anpassungsbereit, fast überangepasst: Sie achten stark darauf, es allen recht zu machen, spüren eigene Grenzen kaum und stellen eigene Bedürfnisse hinten an. Andere ziehen sich eher zurück und halten Abstand, um sich zu schützen. Viele kennen auch ein Hin- und Herschwanken zwischen großer Nähe und plötzlichem Rückzug. Diese Muster sind keine Charakterschwäche. Sie sind historisch gewachsene Schutzstrategien, die sich in einem bestimmten Kontext als sinnvoll erwiesen haben.


3. Worin unterscheidet sich komplexe PTBS von anderen Traumafolgen?

Nicht jede Traumafolge ist automatisch eine komplexe PTBS. Es gibt Überschneidungen mit anderen Diagnosen und Erlebensweisen, zum Beispiel:

  • klassische PTBS

  • depressive Episoden

  • Angststörungen und AD(H)S

  • Dissoziative Störungen

  • Borderline-Muster oder andere Persönlichkeitsstrukturen.


3.1 Dauer und Kontext der traumatischen Erfahrungen

Ein zentrales Unterscheidungsmerkmal ist die Dauer und Wiederholung:


  • Klassische PTBS: oft nach einem klar benennbaren Ereignis (oder wenigen Ereignissen).

  • Komplexe PTBS: meist nach lang andauernden, wiederholten oder früh beginnenden Traumata, insbesondere im Rahmen von Bindungsbeziehungen (z. B. emotionale Vernachlässigung, Missbrauch, häusliche Gewalt, andauernde Entwertung).

Je früher im Leben, desto mehr greifen die Folgen in die gesamte Persönlichkeitsentwicklung ein.

3.2 Tiefe der Auswirkungen auf Identität und Beziehungen

Bei vielen anderen Traumafolgen stehen bestimmte Symptomgruppen im Vordergrund (z. B. Panikattacken, depressive Stimmung).


Bei komplexer PTBS hingegen finden sich oft:

  • ein dauerhaft erschüttertes Selbstbild,

  • eine grundlegende Unsicherheit in Beziehungen,

  • ein tiefes Misstrauen gegenüber sich selbst (den eigenen Wahrnehmungen und Gefühlen) und gegenüber anderen.


3.3 Dissoziation und „inneres Wegsein“

Viele Menschen mit kPTBS kennen das Phänomen der Dissoziation, also Momente, in denen:

  • alles „wie hinter einer Glasscheibe“ wirkt,

  • man sich selbst fremd wird (Depersonalisation),

  • man sich an Situationen nur bruchstückhaft erinnert oder wie „weggetreten“ war.


Dissoziation kann auch bei anderen Traumafolgen vorkommen, ist bei komplexer PTBS jedoch häufig stärker und über längere Zeiträume hinweg vorhanden. Sie hatte ursprünglich die Funktion, Unerträgliches erträglicher zu machen, wird später jedoch oft zur Quelle neuer Verunsicherung.


Entwicklungstrauma (kPTBS) kann Erkrankungen auf zellulärer Ebene auslösen und Verhaltensmuster beeinflussen
Entwicklungstrauma (kPTBS) kann Erkrankungen auf zellulärer Ebene auslösen und Verhaltensmuster beeinflussen

4. Wie kann Heilung bei komplexer PTBS aussehen?

Heilung bei komplexer PTBS ist nur selten ein geradliniger Weg. Sie ähnelt eher einem behutsamen Annähern, einem wiederholten Ausprobieren, einem allmählichen Kontakt mit sich selbst. Es geht weniger darum, „alle Symptome loszuwerden“, sondern darum, mehr inneren Boden, mehr Wahlmöglichkeiten und mehr Mitgefühl für sich selbst zu entwickeln.


Körper und Nervensystem als Verbündete

Weil komplexe PTBS so tief im Körpergedächtnis verankert ist, können körperorientierte, traumasensitive Ansätze besonders hilfreich sein. Dazu gehören zum Beispiel Somatic Experiencing, traumasensitiver Yoga (TCTSY), sensorimotorische Psychotherapie oder andere Formen, die das Nervensystem behutsam einbeziehen.

Ziel ist nicht, möglichst schnell „intensiv zu spüren“, sondern im Gegenteil, in kleinen, gut dosierten Schritten neue Erfahrungen von Sicherheit zu machen: zu merken, wie sich ein Hauch von Entspannung anfühlt, wie man Übererregung ein kleines Stück herunterregulieren oder aus Erstarrung wieder etwas in Bewegung kommen kann.

Wichtig ist dabei eine Haltung der Achtsamkeit und Freundlichkeit sich selbst gegenüber. Es geht nicht darum, „richtig“ zu üben oder bestimmte Fortschritte leisten zu müssen, sondern darum, dem eigenen System zuzuhören und in einem stimmigen Tempo vorzugehen.


Traumasensitive Achtsamkeit und Selbstmitgefühl

Auch Achtsamkeit kann ein heilsamer Wegbegleiter sein – sofern sie traumasensitiv verstanden und angewendet wird. Statt strengen Vorgaben, wie lange meditieren „richtig“ ist, stehen hier Sicherheit, Wahlmöglichkeiten und eine neugierige, sanfte Haltung im Vordergrund. Man darf jederzeit Pausen machen, die Aufmerksamkeit wieder nach außen richten oder eine Übung anpassen.


Selbstmitgefühl bedeutet in diesem Zusammenhang, sich selbst nicht als „defekt“ zu betrachten, sondern sich als Mensch mit einer Geschichte zu sehen: mit Belastungen, die niemand verdient hat, und zugleich mit einer Fähigkeit, zu überleben und sich anzupassen.

An die eigene Seite zu treten – innerlich so, wie man vielleicht einer alten Freundin oder einem engen Freund begegnen würde –, kann zu einem leisen, aber tiefen Richtungswechsel führen.

Selbstmitgefühl bedeutet nicht, das Geschehene zu verharmlosen, sondern mit Wärme, Verständnis und der Wahrnehmung, zwar verwundet und gleichzeitig wertvoll zu sein.


Beziehungen als Ort von Verletzung – und als Ort von Heilung

Weil viele Verletzungen im Kontakt mit anderen Menschen entstanden sind, können auch Beziehungen ein wichtiger Raum für Heilung werden. Das kann eine tragfähige therapeutische Beziehung sein, in der Zeit ist, alte Muster zu verstehen und neue, sicherere Erfahrungen zu machen. Es können Freundschaften sein, in denen Bedürfnisse ausgesprochen werden dürfen, ohne dass sie abgewertet werden. Oder Gruppen, in denen man merkt: „So, oder ähnlich, geht es anderen auch.“

Mit der Zeit kann sich so das innere Narrativ verändern. Aus „Mit dem, was ich erlebe, bin ich ganz allein“, kann langsam die Erfahrung werden: „Es gibt Menschen, die mich sehen und ernst nehmen, so wie ich bin.“


5. Was Sie mitnehmen dürfen und wie Ihr nächster Schritt aussehen könnte

Wenn Sie sich in Teilen dieses Textes wiederfinden, mag das zunächst Unruhe auslösen oder alte Fragen berühren. Gleichzeitig kann es auch ein Stück Ordnung in ein inneres Chaos bringen, wenn das eigene Erleben plötzlich Worte und einen Rahmen bekommt.


Wichtig ist: Ihre Reaktionen sind in aller Regel verstehbare Antworten auf lang anhaltende Belastungen.

Ihre Schutzmechanismen waren einmal notwendig, um schwierige Situationen zu überstehen.

Dass sie sich heute manchmal hinderlich anfühlen, ändert nichts daran, dass sie ursprünglich eine sinnvolle Funktion hatten.

Komplexe PTBS unterscheidet sich von anderen Traumafolgen vordergründig dadurch, wie tief sie in Identität, Bindung und Körpererleben eingreift. Gerade deshalb ist es so bedeutsam, den eigenen Weg nicht länger kleinzureden, sondern ihm Raum, Zeit und Würde zu geben. Heilung geschieht meist nicht in großen Sprüngen, sondern in kleinen, liebevollen Schritten, die sich innerlich stimmig anfühlen.


Einladung

Wenn Sie diesen Weg nicht allein gehen möchten, laden wir Sie herzlich ein, unsere Angebote der Online Trauma Akademie kennenzulernen.


Auf unserer Website, in der Online-Akademie und auf unserem YouTube-Kanal finden Sie:

  • vertiefende Informationen zu komplexer PTBS und anderen Traumafolgen,

  • traumasensible Achtsamkeits- und Körperübungen,

  • Impulse, wie Sie Ihr Nervensystem Schritt für Schritt regulieren können,

  • und ermutigende Begleitung auf Ihrem ganz persönlichen Heilungsweg.


Es ist nie zu spät, sich selbst wieder näherzukommen, alte Überlebensmuster zu verstehen und neue, heilsame Verbindungen zu sich und anderen aufzubauen.


Wir freuen uns darauf, Sie auf diesem Weg ein Stück zu begleiten.





🎥 In den folgenden Videos erfahren Sie weitere Aspekte zu den Themen Komplexe PTBS, Traumatherapie und Nervensystemregulation:




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